Erdbebenopfer in Yogyakarta.
Gerade wollte die Boeing 737 von Jakarta in Richtung Yogjakarta starten, da wurden alle Passagiere dazu aufgefordert, die Maschine zu verlassen. Zur Begründung hieß es, dass der Zielflughafen gesperrt worden sei.
Wir schreiben den 27. Mai 2006, kurz vor 7 Uhr morgens; die Nacht war für mich sehr kurz, den langen Tag davor hatte ich auf meiner Anreise von Düsseldorf an Bord diverser Fluggeräte verbracht. Ich dachte nur: Das darf doch nicht wahr sein! Seit fünf Wochen brodelte der Vulkan Merapi nun schon munter vor sich hin, und zwei Stunden bevor ich ihn erreichen sollte, kommt der große Ausbruch, wegen dem ich die lange Reise angetreten habe. Oder konnte es einen anderen Grund dafür geben, den Flughafen zu schließen, als eine gigantische Aschewolke, die den Flugverkehr gefährdete? Beinahe mit Erleichterung erfuhr ich in der Abfertigungshalle, dass es in Yogjakarta wohl ein Erdbeben gegeben hatte. Die anfängliche Erleichterung darüber, dass ich offenbar doch nicht zu spät kommen würde, schlug schnell in Besorgnis um, denn einige meiner besten Freunde befanden sich schon in der Stadt, von all den anderen Menschen dort einmal abgesehen.
Mit einer Stunde Verspätung startete die Maschine mit neuem Ziel. Wir wurden auf einen alten Militärflughafen in Solon umgeleitet und von dort mit Bussen nach Yogjakarta gebracht.
Zunächst waren keine Schäden an den Gebäuden in den Dörfern zu entdecken. Ein paar Kilometer weiter dann die ersten heruntergefallenen Dachpfannen und Risse in den maroden Mauern der Häuser. Schnell änderte sich das Bild. Plötzlich sah man ganze Dächer eingestürzt, Fassadenteile und Glassplitter lagen auf dem Gehweg, auf einem Schulhof Dutzende Feldbetten und verletzte Menschen am Tropf. Zu meiner Rechten der Tempel von Prambanan und ringsum nur Ruinen, ein ganzer Stadtteil von Yogjakarta dem Erdboden gleichgemacht. Zahlreiche Menschen saßen apathisch auf den Trümmern ihrer Häuser, einige wenige buddelten verzweifelt im Schutt.
Per SMS trudelten erste Infos ein: Das Beben hatte sich um 5.55 Uhr ereignet und eine Stärke von 6,2 auf der Richter-Skala gehabt. Das Epizentrum hatte im Küstengebiet gelegen, ca. 30 Kilometer entfernt. Es war ein tektonisches Beben und stand somit nur indirekt im Zusammenhang mit der Aktivität des Vulkans Merapi. Doch die Kette besorgniserregender Gedanken riss nicht ab. Welche Wirkung hatte wohl ein Beben dieser Stärke auf den instabilen Dom des Vulkans, von dem fast stündlich ein pyroklastischer Strom abging?
Die Antwort erhielt ich wenig später von Chris, der freudig überrascht war, mich am unbeschädigten Hotel im Stadtzentrum anzutreffen. Auch mir fiel ein tonnenschwerer Stein von der Brust, als ich ihn sah. "Ja, wir waren draußen am Vulkan, in gebührendem Abstand zu den pyroklastischen Strömen, als plötzlich die Erde anfing zu tanzen", erzählte Chris. Das Herz sei ihnen in die Hose gerutscht, dachten sie doch, jetzt würde der große Ausbruch kommen! Doch statt des finalen Schlages löste sich ein großer pyroklastischer Strom vom Dom, dessen Aschewolke bestimmt zwei Kilometer hoch stieg.
Nach einer kurzen Mittagspause flüchteten wir aus dem Bebenchaos und machten uns gleich auf zum Vulkan. Pünktlich zur "blauen Stunde" stehen wir in Fotoposition vor dem Merapi, genau am Ende einer Schlucht und witzeln über die gute Wahl unserer Position. Für gewöhnlich suchen sich pyroklastische Ströme genau diese Schluchten als Weg. Ob eine Glutwolke wohl die steile Böschung am Ende der Schlucht überwinden könnte? Niemand ist scharf darauf, das auszutesten. Noch bevor ich meine Videokamera auspacken konnte, begann dichter Nebel aufzuziehen und frustriert fuhren wir zum Hotel zurück.
Morgens fuhren wir zu dem Aussichtspunkt, an dem Chris und seine Leute das Erdbeben miterlebt hatten. Durch den Dunst sah man kaum etwas. Dafür waren wir hier auf der sicheren Seite. Martin - der Vulkanfotograf aus München- und ich wären gerne näher herangekommen und überredeten den Fahrer unseres Mini-Busses dazu, nach Kaliurang zu fahren. Das Örtchen an der Vulkanflanke ist Ausgangspunkt für Touren auf den Merapi, die jetzt natürlich nicht stattfanden. Hier begann das Sperrgebiet um den Vulkan. In den Außenbezirken waren 1994, beim letzten größeren Ausbruch, 66 Menschen in den Ausläufern eines pyroklastischen Stroms gestorben. Der Fahrer begann eine Diskussion mit einem Wachposten an einer Straßensperre. Von hier aus könne man nichts sehen, so das Resümee der Unterredung. Enttäuscht zogen wir ab, um es bei Kali Adem zu versuchen, einem Dorf inmitten der Absperrungen und in unmittelbarer Nähe zum südöstlichen Abhang des Vulkans, an dem ebenfalls PF abgingen. Mit einem 20-Dollar-Handschlag ließ uns der Posten an der Absperrung passieren, und wenig später standen wir auf einem Parkplatz am Dorfende und blickten ein Tal hinauf, das sich in einem Bogen bis zum Gipfel des Merapi mit dem aktiven Dom hinaufzieht. Die pyroklastischen Ströme flossen durch das obere Ende dieses Tales.
Endlich nahe genug am Berg, kamen mir Zweifel, ob dieser Standpunkt so günstig war, wie er schien. Noch als ich mich umguckte, löste sich der erste Strom vom Dom. Die Lautlosigkeit seiner Bewegung erstaunte mich. Das Einzige, was ich hörte, war ein gedämpftes Poltern, wie wenn ein großer Felsbrocken über den Boden springt. Gebannt blickte ich nach oben, wo die todbringende Wolke in einem Bogen auf uns zuraste. Ihre Front war schmal und schlank, wie eine Lanzenspitze, und schien eine Handbreit über dem Boden zu schweben. Asche, Staub und Gas stiegen auf und bildeten eine blumenkohlförmige Struktur, die rasch an Höhe gewann, bis eine graubraune Wolke einige hundert Meter hoch über dem Vulkan hing. Starker Wind trieb sie über den gesamten Hang. Nach einem Kilometer verlor die Lanzenspitze an Schwung und lief aus. Nur einige große Brocken kullerten als Steinschlag weiter. Nach kurzer Zeit hüllte die Wolke den Berg ein, driftete westwärts und ließ Aschepartikel auf die Reisfelder am Fuß des Vulkans regnen. Endlich war ich nahe genug an den pyroklastischen Strömen, und ich war mir bewusst, dass es eigentlich schon wieder zu nahe war.
Nachdem wir einige Glutwolken abgewartet hatten und erneut Nebel aufgezogen war, machte sich unser kleiner Trupp von Vulkanbegeisterten auf den Weg nach Yogja.
Abends verabschiedeten sich meine Reisebegleiter, denn sie waren nicht nur wegen des Merapi hier, sondern wollten auch etwas von Java sehen. Ich blieb und erkundete auf eigene Faust weiterhin die steilen Hänge des Merapi, um einen guten Aussichtspunkt zu finden. Die Kommunikation mit meinem neuen Fahrer erwies sich als äußerst mühsam. Er sprach nur wenige Brocken Englisch, und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich ihm klarmachen konnte, wohin ich will. Auf der Karte hatte ich eine Gesteinsrippe ausfindig gemacht, die ziemlich weit im Süden die Vulkanflanke hinaufführt. Von dort würde ich einen ungehinderten Blick auf die pyroklastischen Ströme haben, ohne direkt an vorderster Front zu stehen. So machte ich mich auf den Weg. Nach einigen Kilometern erreichte ich eine kleine Lichtung. Hier hatte ich optimale Sicht auf den Vulkan, allerdings zogen wieder Wolken auf und ich nahm mir vor, zur Morgendämmerung hierher zurückzukehren.
Gesagt, getan: Um 3 Uhr nachts ließ ich mich vom Fahrer am Hotel in Yogjakarta abholen, und eine Stunde später machte ich mich, mit meiner Ausrüstung bewaffnet, auf den Weg. Alleine einem Dschungelpfad zu folgen ist nichts für schwache Nerven ... vor mir grummelte der Vulkan. Gelegentliches Poltern deutete auf pyroklastische Ströme und Steinschläge hin, und hinter mir raschelte es in der Dunkelheit des Unterholzes.
Nach einer halben Stunde erreichte ich die Lichtung und baute die Kamera auf. Noch war es klar und ich sah die Sterne über dem glühenden Dom funkeln. Lavabrocken polterten zu Tal, und Kaskaden von rotglühenden Funken flogen in die Luft. Ansonsten war es still am Vulkan.
Mit Anbruch der Morgendämmerung setzte ein Konzert unterschiedlicher Tierstimmen ein: Grillen und Vögel, Nagetiere und Insekten begrüßten den Morgen. Gegen 7 Uhr stiegen bereits wieder die ersten Wolken auf, und ich horchte gespannt auf jede Regung am Dom. Endlich grummelte es, und ich drückte den Auslöser meiner Videokamera. Ein dickes Gesteinspaket löste sich vom Dom, und die schmale Staublanze eines pyroklastischen Stromes formierte sich. Lautlos und elegant glitt die Wolke durch die kanalförmige Schlucht unterhalb des Gipfels, nahm stetig an Geschwindigkeit zu und wurde weiter unten breiter. Ich sah wild durcheinander wirbelnde Gesteinsbrocken und einander überholende Staubwolken, die den Boden nicht berührten. Die Wolke zischte seitlich an mir vorbei und verlor weiter unten an Schwung. Nach 25 Sekunden zeugte nur noch die sich langsam ausbreitende Aschewolke von dem Ereignis. Innerhalb dieser wenigen Sekunden hatte der pyroklastische Strom mehr als zwei Kilometer zurückgelegt!
Ein pyroklastischer Strom in der Nahaufnahme (Standbild aus dem Video)
Der Tag meiner Abreise nahte. Der Flughafen in Yogjakarta war wieder geöffnet und der Vulkan etwas ruhiger geworden. Trotzdem sah ich am Morgen immer noch viele Menschen auf den Wegen und Straßen vor ihren Häusern schlafen - oben am Vulkan genauso wie unten in der Stadt. Zu groß war ihre Angst vor tektonischen Nachbeben oder Erdbeben, die vom Vulkan ausgehen könnten. Nirgendwo sonst begegneten mir so fatalistisch eingestellte, aber auch so hoffnungsvoll freundliche Menschen wie in Indonesien.
Zwei Wochen nach meiner Reise sorgten Medienberichte über den Merapi für Schlagzeilen. Ein besonders großer pyroklastischer Strom hatte sich vom Dom gelöst und war durch das nordöstliche Tal geflossen. Er hatte erst im Dorf Kali Adem gestoppt. Auf seinem Weg hatte er nicht nur die Stelle versengt, an der unsere kleine Gruppe zuvor auf Beobachtungsposten gewesen war, sondern auch zwei Waldarbeiter in einem Schutzbunker getötet, dessen Tür wohl geklemmt hatte. Der Bunker war unter zwei Meter mächtigen Ablagerungen begraben. Rettungskräfte hatten versucht, zu den Verschütteten vorzudringen, doch erst nach zwei Tagen hatte sich die Tephra so weit abgekühlt, dass es gelang, ein Loch zu buddeln. Die Stahltür des Bunkers hatte sich durch die Hitze verformt, und die Arbeiter waren bei lebendigem Leib gekocht worden.
Stand 2006