Im Januar 2008 wurden die Ausbrüche immer stärker. Eine Reisegruppe versuchte, den Krater über die alte Route zu erreichen, und wurde beinahe von Lavabrocken erschlagen. Nur knapp entkamen die Teilnehmer der Katastrophe. Am 6. Februar ereignete sich dann eine Eruption, die Asche mehrere Kilometer hoch aufsteigen ließ, und am 15. Februar schaffte es eine Aschewolke sogar bis auf zwölf Kilometer Höhe. Die mit Abstand stärkste Eruption des Lengai ereignete sich am 5. März. Asche stieg in einer gigantischen Wolke bis zu 18 Kilometer hoch, und pyroklastische Ströme rauschten die Hänge des Vulkans hinab und versengten alles, was sich auf ihrem Weg befand. Die Asche regnete in den Krater-Highlands nieder, vergiftete das Wasser und ließ das Gras der Viehweiden verdorren. Die Menschen litten unter Atemnot und Augenreizungen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich das Interesse eines Filmproduzenten des ORF für dieses Thema wecken. Wie es der Zufall wollte, plante jener Harald Pokieser einen Dreiteiler über das ostafrikanische Rift Valley, und er beauftragte Chris Weber und mich mit der Dokumentation der Geschehnisse am Berg. Doch inzwischen war die Regenzeit angebrochen, und sintflutartige Regenfälle machten die Pisten in das Gebiet rund um den Vulkan unpassierbar. So mussten wir die Regenzeit abwarten. Es war Mitte Mai, als wir endlich starten konnten.
In Arusha wartete unsere Crew auf uns. Wilhelm, der Guide, war ein vierschrötiger Kerl mit rasiertem Schädel und einer Zahnstellung, die von Parodontose gezeichnet war. Er war Massai und - wie sich später herausstellen sollte - ein herzensguter Mensch. Mit im Wagen saßen noch unser Koch Francis, den ich von einer früheren Expedition her kannte, und natürlich unser Fahrer Richard. Nachdem wir unsere Ausrüstung beisammen hatten, starteten wir in Richtung Rift Valley und erreichten über die neue Asphaltstraße erstaunlich schnell Mto Wambo. Am Ende dieses kleinen Ortes liegt nicht nur der Nationalpark Lake Manyara, sondern auch die Wegkreuzung zum Ngorongoro-Krater. Doch wir bogen bereits am Ortseingang auf eine unscheinbare Piste ab, die hinaus ins Rift Valley führt. Die Landschaft wurde immer afrikanischer: Dornbuschsavanne verdrängte die Felder, und mächtige Baobabs flankierten die Piste. Plötzlich tauchte vor uns die steil abfallende Kante des Rift Valley auf. Von hier erhaschten wir einen ersten Blick auf die Vulkane, die vom Grund des Talbodens aufragen: Kitumbene und Gelai, und hinter dem Keremasi lugte der Gipfel des Ol Doinyo Lengai hervor. In Serpentinen führte die Piste die Riftkante hinunter. Die Türen des alten Landrovers schlossen nicht mehr dicht. Bald waren wir völlig eingestaubt und freuten uns nur noch darauf, unser Lager in Sichtweite des Vulkans aufschlagen zu können. Dazu wählten wir einen Platz am Rand eines gewaltigen Explosionskraters, der wie ein Maar mitten in der Ebene zu Füßen des Ol Doinyo Lengai liegt. Schnell waren die Zelte aufgebaut, und im schwindenden Licht des Tages wurde zu Abend gegessen. An einem kleinen Lagerfeuer sitzend hörten wir aus der Dunkelheit kommende Stimmen und Gesänge der Massai. Bei unserer Ankunft waren uns die nahen Dörfer und Krale nicht aufgefallen. Auch jetzt brannte dort kein Feuer. So saßen wir unter einer weit ausladenden Akazie vor unseren Zelten, tranken Bier, starrten ins Feuer und lauschten in die Ferne.
Am nächsten Morgen organisierte Wilhelm ein paar Massai, die für uns ihre traditionellen Tänze aufführten, und rekrutierte gleich einige Träger, die uns in der nächsten Nacht auf den Berg begleiten sollten. Gegen 4 Uhr begannen wir in Begleitung von drei Trägern unseren Aufstieg. Die Ausbrüche in den Wochen zuvor hatten die normale Route auf den Berg unpassierbar gemacht; sie führte direkt in den aktiven Krater, und bei einem neuerlichen Ausbruch wäre man auf der Flanke dem Bombardement mit Lavagestein ausgesetzt gewesen. So führte uns Wilhelm durch meterhohes Elefantengras, das die unangenehme Eigenschaft hat, sehr scharfkantig zu sein und sich um die Füße zu wickeln. Stolpernd und bereits nach den ersten Metern klatschnass geschwitzt, arbeitete ich mich im Licht der Stirnlampe bergauf. Nach zwei Stunden begann die Dämmerung, und der Grat, auf dem wir uns nun bewegten, wurde immer steiler. Selbst Chris, der Marathon-Mann, zeigte sich von dem Weg wenig begeistert, und als es hell wurde und ich sah, wo ich mich befand, begann ich lauthals zu fluchen. Wir kletterten eine A-förmige Nase mit gut 50 Grad Steigung hinauf. Links und rechts von uns fielen die Flanken des Grates beinahe lotrecht ab. Wer hier stolperte, stürzte unweigerlich zu Tode. Stolpern ... der Gedanke lag nahe, denn auch diese Seite des Vulkans war mit Asche bedeckt. Die abgestorbene Vegetation bot keinen Halt. Die Asche hatte sich während der Regenzeit zu einer zementartigen Schicht verbacken, deren Oberfläche rutschig war und wenig Halt bot. An besonders schwierigen Passagen schlug Chris mit seiner Machete Tritte in den Untergrund. Ich bohrte die Spitzen meiner Stiefel und meiner Wanderstöcke in die Zementasche und stemmte mich Meter für Meter bergan. Wir hatten gut die Hälfte der 1800 Höhenmeter überwunden, als dichter Nebel aufzog. Jetzt wurde sogar unser Führer orientierungslos. Es kam zu einem kleinen Disput zwischen den Massai und Wilhelm darüber, welche die beste Route sei. Wilhelm wollte weiter einem Grat folgen, der nach Osten hin abbog, der Rest der Mannschaft hingegen zog einen Canyon vor. In Anbetracht der Absturzgefahr entschieden wir uns für den Canyon. Jetzt durfte es nur nicht einen dieser tropischen Platzregen geben, die hier kurz nach dem Ende der Regenzeit auftreten können. Das Letzte, was uns gefehlt hätte, war nämlich, von einem Lahar den Berg hinabgespült zu werden.
Schon immer hatte ich das Gefühl, der Lengai sei mein Schicksalsberg. Bei meinem ersten Aufstieg im Jahr 2000 hatte ich heftige Krämpfe in den Beinen bekommen und es gerade so geschafft, den Gipfel zu erreichen. Dann stand ich auf einem der Hornitos in seinem Krater, als plötzlich eine Seite des Turms kollabierte. Aus einem riesigen Loch schoss ein Schwall Lava, mit dem sich der Lavasee, der im Inneren des Hornitos gekocht hatte, in den Krater ergoss. Der Schreck saß damals tief, und meine Gefährten und ich rannten um unser Leben. Ähnliches tat ich, als acht Tage später erneut eine Hornito-Flanke aufbrach und die Lava wenige Meter entfernt an mir vorbeiflutete. Mein dritter Aufstieg im Jahr 2004 wurde von vornherein vereitelt, weil ich im Schlamm am Ufer des Lake Natron ausrutschte und mir mein Knie zerschmetterte. Wiederum zwei Jahre später campte ich im aktiven Krater, als nachts plötzlich einer der größten Hornitos wie eine Turbine pfiff und zu explodieren drohte. Es war dann aber doch ein anderer Turm, der zusammenbrach und uns einen Lavastrom entgegenschickte. Auch Chris hatte schon einiges am Vulkan erlebt, und so erklommen wir ihn diesmal todesverachtend, oder zumindest mit sehr gemischten Gefühlen.
Nach sieben Stunden näherten wir uns erschöpft dem inaktiven Südostkrater. Wo einst steppenartiger Bewuchs gewesen war, sahen wir jetzt nur graue Asche. Wie auf dem Mond reihte sich Einschlagskrater an Einschlagskrater - nur dass die Krater hier nicht von Meteoriteneinschlägen stammten, sondern von Lavabomben, die in gewaltigen Explosionen aus dem Vulkan geschleudert worden waren. Dabei lag der Südostkrater gut einen halben Kilometer vom aktiven Krater im Nordwesten entfernt, geschützt durch eine 150 Meter hohe Felswand. Schlagartig wurde uns klar, was wir schon die ganze Zeit befürchtet hatten: Im Falle eines großen Ausbruchs war die Überlebenschance hier gleich null. Trotzdem bauten wir unsere Zelte auf. Drei Tage wollten wir ausharren und unsere Filmaufnahmen machen, natürlich auch in der Hoffnung, einen kleinen Ausbruch drüben im aktiven Krater filmen zu können. Nach einer Rast bestiegen Chris und ich den Gipfel und schauten auf den aktiven Krater hinab. Die Veränderungen der letzten Monate waren beachtlich und erstaunten uns sehr. Wo zuvor die Kraterplattform mit ihren Hornitos gewesen war, saß jetzt dick und behäbig ein neuer Kraterkegel. Die Hornitos waren genauso verschwunden wie die für den Lengai typische natriumkarbonatische Lava. Bereits auf dem Weg hinauf hatten wir einige Lavabomben untersucht, die eine eigentümliche Struktur aufwiesen. Sie glichen Blätterteig mit einer Steinfüllung, und die Ummantelung bröselte einfach so weg. Hier hatten sich zwei unterschiedliche Lava-Arten miteinander vermischt. Offenbar hatte schnell aufsteigendes und weniger differenziertes Magma die Magmakammer durchschlagen, in der das Natriumkarbonatit herangereift war.
Für eine Weile genossen wir den fantastischen Ausblick. Die Luft war klar wie selten, und der Blick reichte weit über die Krater-Highlands im Südosten, wanderte über die Serengeti weiter östlich und schweifte im Norden bis zum 100 Kilometer entfernten Ende des Lake Natron. Aus dem riesigen Loch des Kraters stiegen beständig zwei Dampfsäulen auf, deren leicht bräunliche Färbung auf die Vermischung mit vulkanischer Asche hindeutete. Der Vulkan konnte jederzeit erneut ausbrechen! Als wir gegen Abend zum Lager zurückkehrten, vergrub ich mich völlig erschöpft in meinen Schlafsack. Selbst am Äquator wird es auf 3000 Metern Höhe nachts empfindlich kühl. Wilhelm hatte inzwischen gekocht und servierte uns das Essen am Bett.
Für den nächsten Morgen planten wir einen Ausflug auf den Rand des neuen Kraters. Im Eilschritt erklommen wir den Lavawall, wohl wissend, dass wir im Falle eines auch nur kleinen Rülpsers des Vulkans in eine brenzlige Situation kommen würden. Während ich mich den lockeren, gut 50 Meter hohen Steinhaufen hinaufwühlte, ging mir durch den Kopf, dass ich hier wohl jungfräulichen Boden betrat, auf dem zuvor noch nie ein Mensch gewandelt war. Chris wollte schnell ein paar Messungen mit dem GPS machen und kartierte als Erster den neuen Krater-Kegel. Ich baute in Windeseile die Kamera auf und filmte den gähnenden Höllenschlund unter mir. 150 Meter weiter unten konnte ich im Dunst einen Förderschlot erkennen, aus dem es so laut fauchte, dass mir das Blut in den Adern gerann. Mit dem Dampf schoss extrem fein verteilter Lavastaub nach oben, der sich binnen Sekunden auf meiner Kamera absetzte und das Filmen unmöglich machte. So verließen wir diesen ungastlichen Ort nach wenigen Minuten wieder und brachten uns auf dem weiter entfernten Gipfel in Sicherheit.
Ihren Höhepunkt erreichte die Expedition am folgenden Tag. Wir standen schon Stunden auf unserem Beobachtungsposten, als der Dampf aus dem Krater zu pulsieren anfing. Der Dampfausstoß verstärkte sich schnell, und der Dampf vermischte sich immer mehr mit Aschen. Bald zog eine beständige braune Wolke aus dem Krater, die sofort vom starken Wind erfasst und den Hang hinuntergedrückt wurde. Aufgeschreckt rechneten wir mit einem etwas größeren Ausbruch, doch dieser erfolgte nicht.
Am nächsten Morgen machten wir uns an den Abstieg. An den steilen Passagen begab ich mich unrühmlich auf den Hosenboden und rutschte auf allen Vieren den Hang hinab. Völlig erschöpft erreichten wir nach vier Stunden das Basiscamp am Fuße des Ol Doinyo Lengai.