Völlig steif stolpere ich aus der Boing 747. Vor knapp 17 Stunden entkamen Marc und ich dem deutschen Winter, um 9600 km Luftlinie auf die Südhalbkugel zu jetten. Nun trifft mich ein Schwall feuchtwarmer, tropischer Luft, der mich fast umhaut. Ich bin auf La Réunion, einer 2512 qkm großen Insel im Indischen Ozean. 800 km von Madagaskar, 160 km westlich von Mauritius, ist Réunion die westlichste Insel der Maskarenen und seit 1946 französisches Übersee-Département. Dennoch bin ich noch immer nicht am Ziel meiner Reise. Noch drei Stunden Anfahrt zum aktiven Vulkan Piton de la Fournaise liegen vor mir, drei Stunden voller Erwartungen.
Je näher ich meinem Ziel, dem aktiven Piton de la Fournaise komme, desto jünger wird der Boden, auf dem ich mich bewege. Erst vor 300000 Jahre entstand er an der Südost-Flanke des Pt. des Neiges, einem erloschenen Vulkan. An der Hochebene Plaine-des-Cafrés, wo die Auffahrt zum Fournaise beginnt, liegt die Nahtstelle zwischen den Feuerspeiern. Die 30 km lange Route du Volcan durchquert drei Calderen, von denen die südwestlichste, die Enclos Fouqué auch die jüngste ist. Der fast perfekte Ringbruch schließt den eigentlichen Fournaise, das aktuelle Eruptionszentrum ein.
Als ich nun die letzten Kilometer über eine Piste auf den Pas de Bellecombe, den Einstieg in die Enclose Fouqué, zuholperen, befinde ich mich in einer beachtlichen Autokarawane. Fast hat es den Anschein, als wollten alle Bewohner der Insel ihrem Vulkan einen Besuch abstatten. Das Militär versucht die Blechlawine kanalisieren und auf Parkplätze zu dirigieren, doch der Ansturm ist zu groß. Schnell ist die Parkkapazität erschöpft. Busse werden eingesetzt, die den Pendelverkehr zum Pas de Bellecombe aufrecht erhalten. Hier steht ein Zeltdorf, in dem das Militär, Feuerwehr, Gendarmerie zum Ausbruchszentrum geleitet. Wie eine Ameisenstraße wandern 100 Meter unter mir, auf dem Grund der Caldera, Tausende Touristen auf zwei winzige, dampfende Kegel zu. Ein Vulkan als Touristenspektakel.
Mit einem ersten Eindruck fahre ich zum vulkanischen Observatorium, wo mir der Direktor Dr. Staudacher den Verlauf des Ausbruchs schildert:
"Schon seit Anfang des Jahres mehrten sich, nach fünfjähriger Ruhephase, die Anzeichen für einen Ausbruch. Die Inklinometer zeigten ein Aufblähen des Bergs an, für das nur eine Magmenintrusion in die höher gelegenen Magmakammern verantwortlich sein konnte. Gleichzeitig nahm auch die Erdbebenhäufigkeit zu. Am Samstag, dem 7. März häufte sich die Bebentätigkeit derart, dass eine erste Warnung von den Vulkanologen ausgesprochen wurde. Am nächsten Tag begann eine seismische Krise mit über 1000 Erdbeben in der Stunde. Jetzt schlugen die Vulkanologen Alarm. Die Präfektur wurde verständigt, der Zugang zum Vulkan gesperrt und die Enclose Fouqué evakuiert. Der Ausbruch stand unmittelbar bevor. Am Montag um 15.05 Uhr setzte der Tremor ein, ein beständiges Beben und Zittern der Erde, verursacht durch den Magmenaufstieg. Das Magma war unterwegs!
An der Nordost-Flanke des Vulkans riss der Boden auf; ein Spaltensystem vom Gipfel des Fournaise bis zu einem Nebenkrater tat sich auf. Auf einem Kilometer Länge schossen 50 Meter hohe Lavafontänen in die Luft, doch schon wenige Stunden später schloss sich der größte Teil des Spaltensystems wieder. Die Aktivität beschränkte sich auf zwei Eruptionszentren, um die herum rasch wachsende Schlackenkegel entstanden. Sie wurden "Kapor" und "Katja-et-Maurice-Krafft" (benannt nach dem 1991 am Vulkan Unzen verstorbenen Vulkanologenpaar) getauft und erreichten schnell eine Höhe von 30 Metern. Ein Lavastrom trat seinen Weg in Richtung Meer an, welches er jedoch nicht erreichte.
Am 11. März öffnete sich ein weiterer Spalt an der Nordwest-Flanke, der jedoch nur wenig Lava förderte. Seit Mitte März pendelte sich die Aktivität der Krater "Kapor" und "Katja-et-Maurice-Krafft" in strombolianischen Ausbrüchen ein, die allmählich schwächer werden."
Versorgt mit Informationen und einem Access für den unbeschränkten Aufenthalt am Eruptionszentrum, mache ich mich am nächsten Tag, spät nachmittags auf den Weg, reihe mich ein in die endlos erscheinende Ameisenstraße von Touristen. Der Boden der Enclose, der von oben glatt und glänzend in der Sonne lag, entpuppt sich aus der Nähe als ineinandergeschobene und verkeilte Platten basaltischer Sticklava. Sie bildet den 3 km langen Weg, auf dem ich das Ziel meiner Bemühungen stets vor Augen habe.
Langsam wachsen die Schlackenkegel heran. Sie bestehen aus frischen Pyroklastika und befinden sich in stetem Wandel. Die Lavafontänen liefern ständig frisches Material aus dem Erdinneren. Werden die Wände zu steil, rutschen die losen Schlacken ab. Was gerade noch eine Kuppe war, ist nun ein scharfer Grat. In vermeintlich massiven Wänden klaffen plötzlich metergroße Löcher.
Nur 100 Meter von den feurigen Fontänen entfernt, erklimme ich Schritt für Schritt den instabilen Wall aus scharfkantigen Pyroklastika, die laut knirschend unter meinen Schuhen zerbrechen. Auf einem oberflächlich erkalteten, erst eine Woche alten Lavastrom stehe ich dem Tor zur Hölle des Kapor direkt gegenüber, genieße den pulsierenden Anblick der rotglühenden Fontänen aus flüssigem Gestein. Doch nach wenigen Minuten reißen meine heißer werden Füße mich in die Realität zurück. Vorsichtig balanciere ich zurück auf sicheren Boden, gerade noch rechtzeitig. Marc, der ein wenig länger auf dem Lavastrom steht, hat weniger Glück. Die Sohlen seiner Stiefel halten der Hitze nicht stand; nur mit Mühe erreicht er den vermeintlich sicheren Pfad. Doch Sicherheit ist bei einem Vulkanausbruch nur eine relative Sache. Eine plötzliche, heftige Eruption schleudert ihre gefährliche Fracht in unsere Richtung. Um uns herum schlagen Lapilli und Bomben wie Geschosse ein, ein sicheres Startzeichen für den schnellen Rückzug.
Aus angemessenem Abstand beobachte ich die Eruptionen weiter, da bricht die Wand am Kraterrand, auf der zuvor noch Menschen gestanden hatten, weg. Ein Lavastrom sucht sich rotglühend einen neuen Weg durch die Nacht. Fast friedlich wirkt das Bild der fließenden Lava.
1165° C heiß ist die basaltische Schmelze, die Dank ihres geringen SiO2 Gehalts eine niedrige Viskosität aufweist. Dünnflüssig und wenig explosiv wird sie gefördert und gestattet den Vulkanologen die Annäherung. Sie sammeln Proben frischer Lava, vulkanische Gase und schleppen schrankgroße Instrumente und Messstationen zum Berg. Aus dem so gewonnenen Datenwust hoffen sie, eine zuverlässige Methode zu Vorhersage von Vulkanausbrüchen, auf Basis der Änderung der Gaszusammensetzung, zu gewinnen. Noch ist man bei der Grundlagenforschung, für die sich der Fournaise als Modell geradezu anbietet. Noch nie ist in historischer Zeit ein Mensch bei einem Ausbruch ums Leben gekommen. Doch selbst wenn die Wissenschaftler erfolgreich sind, wird man das spektakuläre Naturereignis wahrscheinlich noch lange nicht im Griff haben. Jeder Vulkan ist individuell verschieden, der Chemismus der Magmen, die Wegsamkeiten im Untergrund, die Größe und Form der Magmakammern und die Lage der Vulkane in tektonisch unterschiedlich beanspruchten Gebieten sind nur einige der Unterschiede, für die ein komplexes Modell geschaffen werden muss. Bis zu diesem Zeitpunkt werden noch viele Vulkane ausbrechen und noch mehr Daten gesammelt werden müssen.