Seismizität hat leicht abgenommen – Ausbruchsgefahr bleibt bestehen
Zwischen Mitternacht und heute Morgen um 8 Uhr ereigneten sich gut 600 schwache Erdbeben im Bereich des magmatischen Gangs auf der isländischen Reykjanes-Halbinsel. Das sind immer noch sehr viele Erdbeben, aber etwas weniger als wir in den vergangenen Tagen gesehen haben. Die stärksten Erdbeben hatten Magnituden im 2er-Bereich, sodass die freigesetzte Gesamtenergie geringer ist als in den vergangenen Tagen. Nichtsdestotrotz akkumuliert sich weiter Magma im Gang, was sich auch in weiteren Bodendeformationen widerspiegelt, wobei es ein recht inhomogenes Bild gibt: Während in Grindavik der Boden weiter absackt, hebt er sich bei Svartsengi und im Süden des Fagradalsfjall an. An den meisten Stationen wird eine anhaltende horizontale Bodenverschiebung um mehrere Millimeter pro Tag registriert.
Nachdem gestern Nachmittag Grindavik aufgrund erhöhter Schwefeldioxid-Konzentrationen geräumt wurde, wartet man heute noch auf das O. K. der Behörden, damit die Bewohner des Ortes für einige Stunden in ihre Wohnungen zurückkehren können, um ihre Sachen zu bergen. Offenbar gibt es auf Island eine Pflichtversicherung gegen Elementarschäden, so dass die meisten Betroffenen letztendlich abgesichert sind und nicht vor einem finanziellen Ruin stehen, wenn sie ihre Häuser komplett verlieren sollten. Der Wert der versicherten Immobilien in Grindavik wird auf 14 Milliarden ISK geschätzt, was 90 Millionen Euro entspricht.
IMO-Wissenschaftler kommentierten gestern, dass das Schwefeldioxid dem Magma im Gang entströmt. Die Schmelze müsse in einer Tiefe von weniger als 500 m stehen, damit das Gas die Erdoberfläche erreicht. Natürlich kann aber auch Gas aus größerer Tiefe aufsteigen, wenn es offene Risse gibt, die bis zur Oberfläche durchdringen. Die meisten Erdbeben spielen sich weiterhin in der Tiefe der Hauptintrusion ab und zeigen keinen Magmenaufstieg zur Oberfläche an.
Die beiden Forscher Kristín Jónsdóttir, Seismologe am Isländischen Meteorologischen Amt, und Freysteinn Sigmundsson, Geowissenschaftler an der Universität Island, diskutierten gestern im Fernsehen über die Naturkatastrophe in Grindavík. Sie meinten, dass die Evakuierung von Grindavik mindestens ein paar Wochen andauern werde, selbst wenn es nicht zu einem Vulkanausbruch kommen wird. Es wird ein schwieriger Entscheidungsprozess werden, den Menschen eine Rückkehr zu erlauben. Grundvoraussetzung dazu sei, dass der Magmenzustrom im Untergrund stoppt. Aber selbst dann sitzt man in Grindavik auf eine tickende Zeitbombe. Im Zuge der Diskussion wurde auch klar, dass selbst die führenden Wissenschaftler auf Island nicht genau wissen, was im Untergrund abläuft und welches Ausmaß die zu erwartende Katastrophe annehmen wird.
Was mir in all den Berichten zu kurz kommt, ist eine Einschätzung der Situation in Bezug auf die zu erwartenden Gasemissionen auf Reykjanes und in Südisland. Schließlich lebt hier der größte Teil der Inselbevölkerung. Zwischen Grindavik und der Hauptstadt Reykjavik liegen gerade einmal 40 km Luftlinie. Zwar herrschen normalerweise Windrichtungen vor, die das Gas von der Hauptstadt fernhalten würden, doch bei ungünstigen Wetterlagen hat man im Worst-Case-Fall schon mit starker Beeinträchtigung zu rechnen.
Die meisten Forscher sind sich einig, dass ein Vulkanausbruch droht, der viel, viel größer werden könnte als das, was man in den letzten Jahren auf Reykjanes gesehen hat. Wie schlimm so ein Ausbruch werden kann, zeigt die Laki-Eruption von 1783. Hier öffnete sich eine mächtige Eruptionsspalte über dem Island-Mantelplume. Während des Initialstadiums war die Spalte 12 km lang (der aktuelle Gang hat eine Länge von mindestens 15 km) und erweiterte sich im Laufe der mehrmonatigen Eruption auf 27 km Länge. Damals zogen die Gaswolken bis nach Irland und England und lösten eine Kälteperiode aus. Tausende Menschen verhungerten und selbst in Deutschland gab es ungewöhnlich strenge Winter mit anschließendem Hochwasser.
Statistisch gesehen dürfte es gar nicht zu so einem starken Ausbruch kommen, denn erst vor 2 Jahren erlebte die Welt die Hunga Tonga-Hunga Ha’apai Eruption, die das Klima beeinflusst. Solche Eruptionen kommen bestenfalls alle paar Jahrzehnte vor. Aber was stören sich Vulkane an Statistiken?