1991 rollte ein Lavastrome auf eine kleine Siedlung auf der Flanke des Vulkans Kilauea zu. Dramatische Videoaufnahmen zeigten damals verzweifelte Menschen, die gegen die Höllenglut ihre Gartenschläuche einsetzten, oder Gin-Flaschen, in Bananenblättern gewickelt, vor die heranrückende Lavafront legten. In ihrer Not erinnerten sie sich an eine alte Legende der polynesischen Ureinwohner Hawaiis. Sie rankt sich um die Feuer- und Vulkangöttin Pele, die nach zahlreichen, Kämpfen, Liebschaften und einer langen Reise ihre neue Heimat im Krater des Kilauea auf Hawaii gefunden hat.
Pele entstand aus der Vereinigung von Himmel und Erde und hatte zahlreiche Geschwister. Wie es unter Geschwistern öfters vorkommt, befand sich Pele mit ihrer Schwester Namakaokaha`i (Kurzform Namaka) im Streit. Diese war die Göttin der Meere und der ständige Kampf der Elemente erzürnte den Vater der Geschwister, sodass er Pele fortschickte. Ihr Bruder Kamohoali'i schenkte ihr ein Kanu in dem Pele die Heimat Tahiti verließ. Damit gelangte sie nach Hawaii und schuf mit ihrem magischen Stab Pāoa die Vulkane. Ihre Schwester konnte den Kampf nicht aufgeben, folgte ihr und bekämpfte das Feuer weiterhin mit Wasserfluten.
Auf Maui kam es zur finalen Schlacht zwischen den ungleichen Geschwistern, in der Pele unterlag. Die Schwester wähnte Pele für tot und kehrte nach Tahiti zurück, doch Pele überlebte, suchte Zuflucht im Halema'uma'u Krater auf Big Island Hawaii, wo sie seitdem zurückgezogen lebt und mit der Schneegöttin Poli'ahu streitet, die den Nachbarvulkan Mauna Kea beherrscht.
Viele Einwohner polynesischer Abstammung auf Hawaii verehren Pele heute noch. Hulas, die traditionellen Tänze Polynesiens, erzählen die Geschichte Peles. In Zeichnungen und Grafiken wird sie als Frau mittleren Alters dargestellt, deren Haare aus erstarrter Lava bestehen. Tatsächlich werden feine Lavafäden als Peles Haare bezeichnet. Diese Lavafäden entstehen häufig, wenn in einem Lavasee Fontänen aufsteigen. Platzende Gasblasen schleudern feine Lavatröpfchen in die Luft und das zähe Material zieht dabei millimeterdünne Fäden hinter sich her. Diese werden von der Thermik erfasst, steigen auf und sammeln sich in Mulden am Kraterrand zu dicken Knäulen, die wie blonde Haarbüschel aussehen.
Auf Hawaii grassiert das Gerücht, dass Pele jeden verflucht, der Lavagestein von der Insel mitnimmt. Tatsächlich häufen sich im Visitor-Center der Nationalparkverwaltung von Hawaii Rücksendungen von Lavasteinen, die vom Pech verfolgte Touristen zurückschickten.
Pele gilt nicht nur als Göttin der Zerstörung, sondern spiegelt die Dualität des Vulkanismus wieder, die darin liegt, dass Vulkanausbrüche neues Land entstehen lassen. Nirgendwo sonst wird das so deutlich wie auf Hawaii, denn dort reicht selbst die kurze Zeitspanne eines Menschenlebens aus, um zu erkennen, dass die Schöpfung unseres Planeten ein offenes Kapitel ist. Das zeigt sich auch in dem Beinamen der Göttin: "Die, die das Heilige Land formt". Sie formt es dort, wo die Lavaströme ins Meer münden. Der Kampf der Elemente, der sich in den Reibereien der Geschwister Pele und Namaka wiederspiegelt, erreicht seinen Höhepunkt in der Geburt eines neuen Küstenabschnittes in Form eines Lavadeltas. Dieses Delta hat die Insel in den letzten Jahren um ca. 200 m vergrößert. Doch das junge Land ist nicht stabil. Immer wieder gelingt es Namaka einen schmalen Streifen Lavafels zurück zu erobern, indem sie mit ihren meterhohen Wellen an den Klippen nagt. Lange Küstenabschnitte können dann abbrechen und im Meer versinken. Aus diesem Grund ist der neue Küstenstreifen an der Lavafront für Besucher gesperrt. Pele lebt sowieso lieber zurückgezogen und nimmt nur selten die Opfer der Menschen an.